Allgemein Gedanken einer Mama

Eine Bank, ein Haken, viel Blut und eine Vollnarkose.

8. November 2017

Bin unterwegs. Beruflich oder besser noch: der Ausbildung wegen. Fahre mit einer freiberuflichen Hebamme durch die Stadt, darf an Vor- und Nachsorgen teilnehmen. Die Sonne scheint an diesem Tag. Hell und warm. Kann mich an keine weiße Wolke erinnern, die sich am blauen Himmel entlang schiebt. Ein schöner Tag, ein warmer Tag.

Der letzte Termin. Ein Wochenbettbesuch. Ein toller Besuch bei einem tollen Paar. „Noch ein Eis?“ fragt die Hebamme. Überlege lang hin und her. Wäge Kalorien ab und lasse den bevorstehenden Genuss siegen. Entscheide mich entgegen aller Vorhaben für Schokolade mit Minze. Schlecke genüsslich an meiner Kugel Eis und werde durch einen After Eight Geschmack überrascht. Hatte das so nicht erwartet. Süssliche Frische in meinem Mund. Weinende Kinder an der Eisdiele. Wildes Treiben innen und außen. Fachsimpelei zwischen uns beiden. Frauen, die uns grüßen. Sonnenstrahlen auf der Haut, Eis auf der Zunge. Perfekter Abschluss.

Schlendern zum Auto. Der Motor startet. Krame mein Handy aus dem „Ohne Hebamme geht gar nix“ Stoffbeutel. Lasse das Telefon bei Besuchen immer im Auto. Aus allerlei Gründen. Sehe drei Millionen Nachrichten. Lese das Wort „Notaufnahme“. Herz stolpert. Sehe ein Bild. Herz rast. Lese Papas Satz „Lippenpiercing schief gegangen“. Schauriger Humor. Papa eben. Bringe kaum ganze Sätze heraus. Besorgtes Gesicht neben mir. Fahren eilig zu meinem Auto. Versuche den Mann telefonisch zu erreichen. Keine Chance. Schicke mindestens 1000 Nachrichten. Keine Antwort. Herz bleibt fast stehen. Starre wieder auf das Bild. Sehe Blut, eine angerissene Lippe, Kompressionen darauf, einen starren Blick meines Kindleins. Von „Nähen“ ist die Rede. Ich schlucke.

Am Auto. Weiterhin viel Sorge der Hebamme, fragt sich ob ich überhaupt Auto fahren kann. Nicke, verspreche aufzupassen, hechte zum Auto. Bleifuß. Unterwegs immer wieder der Versuch den Mann zu erreichen. Irgendwann sprechen wir. Das Wort Vollnarkose fällt. Tränen in den Augen. Herz hoppelt weiter. Gedanken an alte Greys Anatomy Folgen, in denen die Patienten nicht mehr aufwachen. Erinnerungen an den letzten Einsatz im OP. Keine gute Erinnerungen. Kurz danach steht fest: Operation unter Vollnarkose ist unumgänglich. Wunde zu tief, als das es lokal betäubt werden könnte.

Fahre weiter, verfluche alle anderem Autofahrer. Will zu meinem Mädchen. Obwohl der Mann mir versichert hat: alles gut. Tränen laufen. Passiere endlich die Schranke zum Parkplatz der Kindernotaufnahme. Mann simst mir die Zimmernummer der Station. Renne die Auffahrt hoch, drücke den Knopf des Fahrstuhls 10x. Kann keine Treppe entdecken und bleibe daher gefrustet stehen. Erreiche die Station, erreiche das Zimmer. Endlich. Tür auf.

Sehe mein Mädchen. Kurze Umarmung mit dem Papa. Mädchen in die Arme genommen. Schaut TV, ist abgelenkt. Muss mich arg zusammen reißen. Ihr Shirt ist voll mit Blut, es läuft seitlich am Mund entlang. Ein Schauer auf mir. Erklärung vom Papa. Kindlein stand auf einer Bank, wollte ihren Schlüsselanhänger von einem Holzbrett abnehmen, rutschte ab, hing wie ein Fisch an einem der Haken. Wurde zu schwer, Haken in der Oberlippe, fiel, Haken riss diese durch. Kind war kein Fisch mehr. Bilder im Kopf. Zu viele. Gedanken an das Gefühl, das Geräusch, das Blut. Kindlein war wohl nicht leise nach dem Geschehen, verständlicherweise. Papa blieb nach eigenen Angaben ganz ruhig. Lange Abwägung mit den Erziehern ob ein Krankenwagen gerufen werden muss. Entscheidung dagegen.

Kindlein starrt stumm. Kann nicht reden mit dem Verband. Streichle ihren Kopf. Immer noch so viele Gedanken im Kopf. Schreibe eine Liste mit allem was wir für die Nacht und den nächsten Tag brauchen, schicke den Papa nach Hause. Papa packt Taschen, Mama bleibt beim Kind. Schreibe Nachrichten an die Familien. Alle so besorgt. Bin nach außen ruhig, innerlich nichts außer Sorge um das eigene kleine Kind. Fülle Formulare aus. „Ist ihr Kinder schwanger.“ Lachen oder weinen. Keine Entscheidung. Warten. Warten auf die OP. Sekunden,Minuten und Stunden vergehen. Papa wieder da. Bekommen Kleidung für das Kindlein. Viele bunte Teddybären auf dem Hemd. Lustige Socken oben drauf. Kindlein bekommt einen roten Saft. Beruhigung. Abschuss erster Güte. Und dann. Der Moment.

Wir fahren zum OP. Spät Abends. 21 Uhr oder so.. so langes Warten, so dass das Kindlein halbwegs nüchtern in die Operation starten kann. Kommen an. Alle sehr nett. Großer Fernseher im Aufwachraum. Mindestens 50 Zoll! Der Pfleger schaltet sofort aufs Kinderprogramm. Kindlein beginnt zu lallen und lacht. – da wirkt wohl der rote Saft! Mama beginnt fast zu weinen. Weg mit den Tränen, schnell. Noch nicht, später. Viele Gespräche mit dem Kindlein über den Ablauf. Dann Startschuss. Trennung. Kopf platzt. Beiße in meine Hand. Müssen gehen. Herzrasen, Sorgen, Kummer, Liebe. Tür hinter uns geht zu. Kalter, greller Warteraum. Vorher Umarmung mit dem Papa. Tränen. So viele Tränen. Wimperntusche am Shirt. Angst, Sorge, Wut, Trauer. Angst Angst Angst. Mutter sein ist scheiße. Papa geht zum Snackautomaten. Mein Blutzucker im Keller. Esse Schoki und trinke jede Menge Ungesundes. Warten. Warten. Warten. Drehe meine Runden in dem kleinen Raum, erkunde jede kleine Ecke, wo es nichts zu erkunden gibt. Dunkelheit draußen. Immer wieder Tränen und Angst. Kein Halten mehr. Laufe auf dem Flur auf und ab.

Tür geht auf und die Kinderchirurgin steht vor uns. „Alles gut, Narben bleiben.“ Freude und Trauer zugleich. Postieren uns vor der großen Schleuse. Warten. Dann endlich, Tür auf. Leichtes Winken einer Schwester. Gehen. Schnell. Am Bett. Kindlein an Monitoren, alles piepst. Sie schläft, ihre Wunde ist säuberlich verklebt. Stühle werden gebracht, es ist fast komplett leer in den vielen Operationssälen. Streichle ihren Haaransatz, Küsse überall. Mein starkes Mädchen. „Sie muss einmal aufwachen“ heisst es. Zeit vergeht. Viel Zeit. Kuscheln, reden, kitzeln. Irgendwann offene blaue Augen. Verzerrtes Gesicht. Versuche des Kindleins, sich alle Kabel zu entreißen. Tränen. Auf allen Seiten. Kindlein wird bald ruhiger, das Kinderprogrammschafft minimal Abhilfe. Neben unserem Mädchen liegt ein am Bein operierter Mann – er ist abgeschossen mit dem guten Zeug. Sagt der Schwester, er möchte sie heiraten. Räumt im nächsten Satz ein, wie high er noch ist. Macht Spaß mit dem Kindlein. Schwester reicht der Maus eine Tapferkeitsurkunde. Kindlein ignoriert sie. Nach einer Ewigkeit des Wartens endlich Abholung durch die Schwester. Zurück auf die Station. Ansagen. Kuscheln. Bettfertig. Papa fährt nach Hause. Kindlein schlürft Wasser durch einen Strohhalm. Klagt über Hunger. Trinkt Babybrei durch den gleichen Strohhalm. Danach noch mehr kuscheln im Bettchen. Kindlein schläft geklammert an mich ein. Gedanken rattern. Erschöpfung überall. Doch kein Schlaf, stattdessen so viel Demut. Über diese Kleinigkeit. Kopfgedanken an andere Kinder mit anderen Schicksalen.

Finde nicht recht in den Schlaf und schaffe so vielleicht zwei oder drei Stunden. Höre die Nachtschwester. Nachts um 4: Kindlein muss auf die Toilette, will die Infusionen los werden. Schleppe uns ins grelle Neonlicht. Danach zurück in den vermeintlichen Schlaf. Irgendwann ist endlich der nächste Morgen. Kindlein matschig, außen und innen. Mama noch erschöpfter als am Tag zuvor. Müdes Reiben der Augen. Gedanken an einen Traum? Dann endlich nach dem Frühstück, bei dem das Kindlein nichts isst, die Visite. Ärztin gibt letzte Anweisungen für die nächsten Tage. Papa ist schon da. Hat Geschenke dabei. Fürs Kindlein. Tapferkeit und so. Werden offiziell entlassen. Packen alles zusammen. Nehmen das Kindlein fest zu uns. Tragen es fest an uns zum Auto. Fahren nach Hause und packen die großen Playmobil Geschenke aus. Langsam kommt das Realisieren. Spannungsabfall. Zwischendurch verdrängen. Zurückgeholt werden durch den Anblick des Kindleins. Ihre Lippen sind stark geschwollen und sollen es auch noch die nächsten Tage bleiben. Am Tag darauf geht es zur Kinderärztin. Alles gut, top genäht, so ihre Aussage. Kindlein knabbert schon wieder kleine Sachen und macht nur Quatsch.

Schnell passiert, schnell vorbei? Monate vergehen. Narben bleiben.. und ja, bis heute sieht man den Unfall. Wir hoffen, dass es sich irgendwann verwächst. 2017 war und ist irgendwie nicht unser Jahr.. herrje..  und daher nehmen wir uns fest vor: keine Unfälle mehr in 2018.

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  • Miriam 13. November 2017 at 13:55

    Oh wow, musste fast selbst weinen, als ich deinen Beitrag gelesen habe. Das muss furchtbar schlimm gewesen sein, deine Kleine so leiden zu sehen. Ich wünsche euch gute Besserung!